Deine Schönheit raubt mir den Atem
Oh, wie man so sehr lieben kann
Du raubst mir den Atem
– You Take My Breath Away – Tiffany Eckhardt –
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Wie schreibt man über Perfektion? Ich versuche wirklich das schleichende Unwohlsein zu verdrängen, dass ich empfinde, wenn ich daran denke, dass Ana und Christian Grey gemeinsam das Heathman verlassen haben. Sie ist immer noch nicht zurück und meine Nerven liegen blank, während ich von einer Story, die an Diffamierung grenzt, mit steigender Nervosität zur Tür blicke. Ich weiß nicht, was ich glaube in Mr. Grey gesehen zu haben. Wenn man Schattenboxen als eine Metapher für all meine Zweifel an ihm sehen kann, dann ist es das, was ich die letzten paar Stunden getan habe, als ich mich in die Fertigstellung des Christian-Grey-Artikels gestürzt habe.
Mein Streben nach Objektivität in dieser Reportage ist vergeblich und ich würde mich gerne über die Arroganz und den Charme der Grey-Männer auskotzen. Meine Tastatur spuckt Gesülze über seine Menschenfreundlichkeit aus, während mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken herunter läuft. Und dann ist da noch Elliot Grey. Was ich nicht gerne alles über ihn sagen würde. So von sich selbst überzeugt, dass er glaubt jedem Honig ums Maul schmieren zu können. In seiner Nähe fühlte ich mich wie eine dieser tausend schönen Hohlköpfe, die sich vermutlich die Klinke seiner Schlafzimmertür in die Hand geben. Dermaßen überwältigt von einem unangemessenen Verlangen nach seinem Körper, dass ich nicht klar denken konnte. Jetzt, mit dem nötigen Abstand, habe ich einen anderen Blickwinkel. Er ist möglicherweise noch schlimmer als sein Bruder. Ein Wolf im Schaftpelz. Urg!
Ich bin so in meinen Frust über die beiden versunken, dass ich beinahe nicht mitbekommen hätte, dass Ana die Wohnung betreten hat. Ich denke sogar, dass sie, wenn sie nicht an mir vorbei gemusst, direkt in ihr Schlafzimmer geschlichen wäre. Als ich zu ihr aufschaue, entdecke ich ihre verheulten Augen und die leichte Röte auf ihren sonst blassen Wangen. Ihr Blick ist gesenkt, als wollte sie sagen ‘Frag nicht’ und ich sollte es vermutlich auch nicht, aber ich kann nicht anders. Meine Wut ist durch das exzessive Schreiben kaum unterdrückt. Was zum Teufel hat dieser Hurensohn Christian Grey getan? Ohne Zweifel war er es, der meine normalerweise unerschütterliche Freundin in Tränen hat ausbrechen lassen.
Ich ignoriere diese Frage zunächst und äußere keine Anschuldigungen ihm gegenüber. Meine investigativen Reporterfähigkeiten sind besser als das, aber es dauert eine Weile bis ich sie zum Reden bringe. Als sie es schließlich tut, tischt sie mir eine Geschichte von einem Fahrrad-Kurier auf, der sie beinahe umgefahren hätte. Also, den Teil mit dem Beinahe-Unfall kann ich akzeptieren, da Ana nicht gerade durch ihre Anmut und Koordinationsfähigkeit glänzt, aber deswegen Heulen? Das nehme ich ihr nicht ab.
In der normalen Mädelswelt sollte ich mich freuen, dass meine beste Freundin sich Seattles begehrtesten Junggesellen geangelt hat. Wenn ich eine x-beliebige Freundin wäre, würde ich sie in Ruhe ihren Weg finden lassen und sie nur aus dem Hintergrund heraus unterstützen. Ana sollte sich darauf verlassen können, dass ich der Cheerleader in ihrem Leben bin, der ihr Glück wünscht und sie anfeuert. Ich wünschte nur, ich könnte sagen, was mit der ganzen Christian-Grey-Sache nicht stimmt. Bin ich eifersüchtig, weil sie es ist und nicht ich? Bin ich etwa genauso engstirnig und oberflächlich, wie die Zicken, mit denen ich zur High-School gegangen bin?
Um die Story vom Beinah-Zusammenstoß zu untermauern, betont sie, dass Grey sie gerettet – dem Tode entrissen habe – gerade noch rechtzeitig. Ist das ein Fall von Heldenverehrung? Projiziert sie da irgendetwas hinein? Dann ist da die Tatsache, dass sie mit ihm Kaffee trinken gegangen ist, obwohl sie Kaffee hasst. In Ordnung, das ist kleinlich und wenn er mich gefragt hätte, wäre es mir auch schwer gefallen seine Einladung abzulehnen. Bin ich sauer, weil sie uns, ihre Freunde, stehen gelassen hat? So ist Ana nicht und es war doch nur ein kleines Date. Sie hat ein Recht auf ein kleines Date.
Vielleicht ist es, weil sie ihn begehrt, was so gar nicht ihre Art ist. Es ist als wäre sie in seinem Sog gefangen. Ich meine, die gegenseitige Anziehung der beiden war so offensichtlich heute. Sie konnten ihre Augen nicht voneinander lassen. Jedesmal wenn sich einer von ihnen bewegte, folgte der andere entweder buchstäblich oder mit den Augen. Wahrscheinlich ist es diese starke Anziehung, die mir Unbehagen bereitet. Auf mich hatte er mit Sicherheit nicht diese Wirkung. Sein Bruder andererseits… Fang gar nicht erst damit an, Kate.
So sehr ich Ana auch liebe, ich verstehe einfach nicht wieso. Nicht dass sie nicht schön wäre, denn sie ist es. Es ist nur so, dass sie einfach nicht dieses gewisse Etwas hat, diese verführerische Raffinesse, die viele Frauen haben. Persönlich denke ich, dass dies eine positive Eigenschaft ist, aber ein Typ wie Christian Grey muss furchtbar viele Frauen kennen. Oder viele furchtbare Frauen. Was will er also von ihr? Na gut, ich kenne duzende Jungs auf dem Campus, die ihr linkes Ei für eine Runde mit Ana geben würden, aber ich kapiere einfach nicht, was Christians Absichten sind. Sein Interesse scheint alles andere als harmlos zu sein und ich sehe, dass Ana, meine großartige Freundin, davon völlig überrumpelt worden ist.
Aber nichts von alledem darf ich laut aussprechen. So sehr ich ihr auch ihre Gefühle ausreden möchte, so weiß ich doch, dass sie noch nie Interesse an einem Mann gezeigt hat, nicht einmal an dem erstaunlich hinreißenden José. Ich fühle mich gezwungen sie zu unterstützen, während sie diese… Verlockung erforscht, obwohl es mich fuchst.
“Er mag Dich, Ana.” Sie löst sich aus meiner besorgten Umarmung und als ein sichtbares Schaudern sie durchzuckt, schlingt sie die Arme um sich. Es bricht mir das Herz. Sie vertraut wirklich nicht leichtfertig und ich sehe, dass sie ihm nicht traut. Aber diese hypnotische Anziehungskraft geht ihr unter die Haut. Christian Grey scheint unwiderstehlich zu sein. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fange ich an zu beten.
“Nein, nicht mehr. Ich werde ihn nicht wiedersehen.” Sie versucht sachlich zu klingen, aber sie wirkt verletzt. Lieber Gott im Himmel, bitte lass nicht zu, dass dieses stahläugige Arschloch meine Freundin verletzt.
Alles, was ich mich traue zu sagen ist “Ach?” Ich will ihr sagen, dass er sich glücklich schätzen könnte sie zu haben. Dass er nichts Gutes im Schilde führt und dass dies alles andere als vorbei ist. Ich möchte ihr von meiner Begegnung mit seinem fantastischen, aber etwas respektlosen Bruder erzählen. Aber nichts von alledem scheint im Moment angemessen zu sein und so schweige ich.
Sie sieht mich traurig an. “Ja… Er spielt in einer anderen Liga als ich, Kate.” Oh Ana, Du bist um Klassen besser als er. Ich hasse zu sehen, was er mit ihr anstellt. Ohnehin ständig verunsichert, muss sie nicht auch noch von Leuten wie ihm daran erinnert werden, wie wenig sie von sich selber hält. Dieser Scheißkerl sollte den Fußboden verehren auf dem sie läuft und die Luft die sie atmet. Ich bin so stinksauer auf ihn. Und wenn sein Bruder glaubt, er könne auch nur noch einmal im Entferntesten in meine Nähe kommen, dann wird er was erleben. Zeit die Selbstachtungsfee herauszuholen.
“Wie meinst Du das?” frage ich unschuldig. Ich will wissen, was sie denkt, damit ich in Beste-Freundin-Manier, ihre Unsicherheiten in der Luft zerreißen kann. Ihn werde ich ihr gegenüber nicht schlecht machen können, aber ihre eigenen Vorzüge, die kann ich ihr zumindest zeigen.
“Oh Kate, das ist doch offensichtlich.” Sie geht in die Küche, vermutlich um die Zweifel zu verbergen, die ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Als ich ihr folge, dreht sie sich zu mir um und sieht mich mit einer Art schicksalsergebener Gleichgültigkeit an. Ich würde es vorziehen, wenn sie wütend wäre, oder wenigstens verzweifelt, aber sie spielt die Ungerührte.
Auf jeden anderen würde sie wirken, als würde sie es nicht interessieren, aber ich kenne sie besser. Es ist Theater. Komm schon Ana. Mach den Anfang.
“Das ist nicht offensichtlich, Ana. Nicht für mich oder jeden anderen, der Dich gut kennt.” …Nichts… “Okay, er hat mehr Geld als Du, aber schließlich ist er reicher als die meisten Leute in Amerika!” …Und ich weiß, dass Dir das Geld nichts bedeutet Ana, und versuch ja nicht mir zu erzählen, dass Du nicht klug oder hübsch genug bist. Sonst bekommst Du die volle Kavanagh-Behandlung.
Wenn sie bloß sehen würde, wie sie alle für sie Schlange stehen. José, Christian Grey, Paul Clayton, verdammt, sogar mein Bruder hätte gerne ein Stück vom Ana-Kuchen, aber ich habe ihm körperliche Gewalt angedroht, sollte er jemals auch nur daran denken. Nicht einer von ihnen ist es auch nur wert ihre Stiefel zu lecken, aber sie bemerkt die sabbernde Horde nicht. Sie begreift einfach nicht, wie unglaublich attraktiv sie ist. Wenn ich anders herum wäre, verdammt, ich würde sie anmachen!
Dann kommt mir ein höchst niederer und schrecklicher Gedanke. Bis jetzt hat Elliot Grey Ana noch nicht gesehen, aber ein Blick auf sie und er schließt sich vermutlich der Reihe ihrer Bewunderer an. Scheiße! Normalerweise fühle ich mich nie unsicher bezüglich meines Aussehens und habe noch nie mit Ana konkurriert, aber sie hat etwas an sich, was Männer dazu bringt sie entweder beschützen oder bis zur Unterwerfung ficken zu wollen. In der Regel beides!
Der Unterschied zwischen uns ist wie Tag und Nacht. Von unserem Aussehen bis zu unseren Persönlichkeiten. Ich denke, ich werde wohl niemals verletzlich wirken, nicht so wie Ana. Männer scheinen von Frauen wie mir eingeschüchtert zu sein. Und kein Mann wird jemals das Bedürfnis verspüren mich beschützen zu wollen, weil ich so stark und unabhängig bin. Aber sicher! Und wohingegen Ana diese unglaubliche innere Stärke und Moral besitzt, bin ich ein emotionales Weichei mit fragwürdigen Moralvorstellungen. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt Freunde sind.
“Kate, er ist…” Oh, hier kommt wieder dieses Selbstzerfleischungsding. Das muss im Keim erstickt werden!
“Ana! Herrgott nochmal – wie oft soll ich Dir das noch sagen? Du bist eine tolle Frau!” Ich hoffe, ich kann ihr endlich einmal die tausend Gründe erläutern, warum Männer sie haben und Frauen wie sie sein wollen, aber für Ana ganz untypisch, unterbricht sie mich.
“Kate, bitte. Ich muss lernen.” Ich bin sowas von enttäuscht von ihr. Das ist so typisch Ana. Flucht in die Arbeit. Wenn sie einmal dicht gemacht hat, bekommt man nichts mehr aus ihr heraus. Sie ist so eigensinnig. Ich frage mich, ob ich sie irgendwie ablenken kann.
“Möchtest Du den Artikel lesen? Er ist fertig. Die Fotos von José sind toll geworden.” Sie sieht nicht so aus als ob sie es wollte. Es scheint als wolle sie sich lieber Nadeln unter die Fingernägel stecken, aber wie üblich überrascht sie mich mit ihrer Selbstlosigkeit. Sie tut es nur meinetwegen.
“Klar.” Sie zaubert ein falsches Lächeln auf ihre Lippen und schlendert zum Laptop. Natürlich willst Du, Steele. Ich drehe den Bildschirm in ihre Richtung und sie tut so, als würde sie den Artikel lesen. Dabei ruht ihr Blick die ganze Zeit nur auf seinem Bild. Ich hätte die Desiderata* schreiben können und sie hätte es nicht gemerkt. Verdammt sei José, dafür, dass er so ein guter Fotograf ist, verdammt sei Christian Grey, dafür, dass er so unheimlich perfekt ist und verdammt sei Ana, dafür, dass sie weder sich selbst, noch mir gegenüber ehrlich ist.
Ich suche nach Anzeichen, die es mir ermöglichen, sie wieder in ein Gespräch zu verwickeln, aber die Rollläden sind unten. Als ich mir selbst das Foto noch einmal ansehe, spüre ich diese enorme Wirkung von Christian Greys Ausstrahlung und ich mag dieses Arschloch noch nicht einmal. Arme Ana. Nachdem sie ihn eine ganze Weile angestarrt hat, verabschiedet sie sich schließlich um zu lernen. Noch mehr Ausflüchte im Meer der Lügen. Dich hat es echt voll erwischt, Miss Steele.
Später am Abend, sitze ich im Bett und öffne meinen Laptop, um noch einmal meine Story zu checken. Zumindest ist es das, was ich mir einzureden versuche. Stattdessen erwische ich mich dabei, wie ich Google nach Bildern von Elliot Grey durchsuche. Auf fast jedem Foto hat er eine andere Frau am Arm, auf irgendwelchen offiziellen Empfängen. Einige kenne ich, einschließlich von ein paar, die zwei oder drei Jahre unter mir an der Schule waren. Verdammt! Rechne mal, Grey, Du könntest deren Vater sein!
Angewidert logge ich mich in meinen Blog ein und stelle fest, dass es innerhalb des letzten Tages eine ungewöhnliche Anzahl von Hits gegeben hat. Vielmehr in den letzten paar Stunden. Ich durchforste die Statistiken, um herauszufinden, woher das plötzliche Interesse kommt. Ich meine, ich bin ziemlich stolz auf meine Arbeit hier, aber ich behaupte nicht, dass meine literarischen Fähigkeiten irgendeinem künstlerischen Anspruch gerecht werden. Es hat eine Weile gedauert, bis ich gelernt habe einen Mittelweg zu finden zwischen dem Wunsch mein Anliegen zu transportieren und der Art von Humor, der die Leser anlockt. Und heute sind die Zahlen plötzlich durch die Decke geschossen.
Als ich die neuen Kommentare und Likes checke kippt plötzlich meine Erdachse. Er hat sich angemeldet, unter seinem eigenen Namen und er hat jeden einzelnen Beitrag der letzten drei Monate gelesen und kommentiert. Ich schreibe über die Umwelt, über Politik, über die Forschungsarbeit der WSU. Ich schreibe über Beziehungen und Unternehmenskultur und den Bildungsstatus in diesem Land. Wie kann er jedem einzelnen zustimmen und es goutieren? Aber hier sind sie, seine Kommentare und Gedanken. Manchmal nur ein Wort, manchmal eine ganze Argumentation, die entweder meine Ideen unterstützt oder sie in Frage stellt. Ich brauche über eine Stunde, um sie alle zu lesen. Vielleicht ist dies ja jemand, der nur vorgibt er zu sein, aber in jedem Kommentar höre ich seine Stimme, seinen Tonfall, seinen Satzbau.
Scheiße! Was zum Teufel hast Du vor, Mr. Grey!
Ich ertappe mich dabei, wie ich auf einige seiner Kommentare antworte. Ich kann nicht anders. Er ist so verdammt klug und einfühlsam. Binnen weniger Augenblicke hat er geantwortet, als hätte er auf mich gewartet. Wir bleiben beim Thema und schreiben innerhalb des Blogs hin und her, bevor wir für die nächsten Stunden in den Chat wechseln. Diese herausfordernden Diskussionen sind das Beste, was ich seit langem erlebt habe. Scheiße! Ich will diesen Mann nicht mögen. Schließlich gebe ich vor müde zu sein und bin schon im Begriff mich abzumelden, kann mir dann aber eine letzte Frage nicht verkneifen.
K: Was willst Du eigentlich?
E: Dich besser kennen lernen.
K: Warum?
E: Weil Du ihre Freundin bist.
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* Die Desiderata, auch als Lebensregel von Baltimore bezeichnet, ist ein berühmter Text (Gedicht) zum Thema „So führst du ein glückliches Leben“.
Er wurde 1927 von Max Ehrmann (1872–1945), einem deutschstämmigen Rechtsanwalt aus Terre Haute, USA, verfasst.
Wörtlich bedeutet der Titel (von lat. desiderare, „ersehnen“, „wünschen“) etwa (Segens)wünsche.
(Quelle: Wikipedia)